Dienstag, 16. Januar 2018

21, 22, drüberatmen

Gestern.

Kind steigt 7:20 Uhr in den Bus,
ich laufe weiter, in den großen Supermarkt.
Selber Schuld, wenn die um 7 Uhr öffnen...
Kann ich auch jetzt meine Paprika für's Abendbrot kaufen.
Bin beinahe die einzige Kundin.
Ein paar Typen in Blaumännern,
die sich ein Brötchen aus der Selbstbedienung gegraben haben,
eine junge Mutter mit Kleinkind im Buggy,
ein paar Teenies, die sich 'ne Cola kaufen.
Eigentlich müsste im Laden entspannte Stille herrschen,
aber aus den unsichtbaren Lautsprechern dröhnt eine Coverversion von U2s "One".
An der Kasse angekommen, staut es sich ein kleines bisschen,
alle wollen so schnell wie möglich weiter weiter weiter.
Das Kassenpiepsen ist so unerhört laut und schrill,
dass ich bei jedem Artikel,
den die Kassiererin über den Scanner zieht,
die Augen zusammenkneifen muss.
Wie bei plötzlichem Zahnschmerz.
Dazu jault eine Frauenstimme undefinierbare Kapriolen um die Melodie des Liedes herum.
Zur Hochfrequenz reicht es leider nicht,
es ist nur nahe dran und deshalb schmerzhaft.
So stehen wir paar Leutchen schweigend an der Kasse und
um uns herum tobt der Lärm.
Ich möchte schreien:
"Ruhe, verdammt nochmal! Mach doch wenigstens mal einer die Scheißmusik aus!".
Stattdessen gröhle ich der Kassiererin zu: "Aufrunden, bitte!".
Hab's passend, schnell raus hier. Uff.
Auf dem kurzen Heimweg erreicht mich eine Textnachricht des Kindes:
"Hab Bauchschmerzen. Schwummig. Mir geht es nicht gut."
Ich rate ihm, ruhig zu bleiben und erstmal die Mathearbeit in der ersten Stunde abzuwarten.
Danach geht es einem Fünftklässler erfahrungsgemäß wieder besser.
Arme Wurst.
Bissken Haushalt.
Waschen und so.
9 Uhr abwarten, dann öffnen die meisten Praxen.
Letzte Woche Mittwoch habe ich für Mom bei einer Physiopraxis nachgefragt,
ob sie auch Hausbesuche machen.
Die Dame am Telefon konnte mir das nicht beantworten,
da müsse sie erst nachfragen,
von wegen Kapazitäten und so,
sie oder Chefin würden dann zurückrufen.
Würden sie. Eventuell. Haben sie aber nicht.
Ich hätte ja nachgefragt,
aber seitdem läuft der Anrufbeantworter gleich nach dem ersten Klingeln.
"Das Telefon ist zur Zeit nicht besetzt..."
Na gut, vielleicht krank geworden, was weiß ich.
Schwinge mich an den Hörer und versuche erneut mein Glück.
Es klingelt nur unendlich lange.
Vermutlich ist mittlerweile der Aufnahmespeicher voll.
Nochmal nochmal nochmal probieren.
Erfolglos.
Irgendwann rufe ich Mom an.
Will nur fragen,
ob sich bei ihr jemand gemeldet hat.
Komme aber nicht dazu.
"Weisst Du, was ich gerade gemacht hab???"
"Öhm... Nööö!?"
"Ich wollte Kaffee kochen. (sprich: aufbrühen)
Dazu hole ich mir alles ran und setze mich auf den Rollator. (Mhm.)
Da sitze ich dann aber ziemlich niedrig. (Joah, stimmt.)
Und der Wasserkocher ist so schwer.
Das ist mir vorher nie aufgefallen. (Zartes Alarmglöckchenläuten)
Den muss ich dann mit beiden Händen hochheben,
damit ich das Wasser in den Filter gießen kann. (ringringring)
Da kann ich den Filter nicht festhalten. (möööööpmööööpmööööp)
Und da stoße ich doch glatt mit dem Wasserkocher an den Filterrand,
der Filter kippt um und der ganze heiße Kaffee landet auf meinem Oberschenkel!
(lalüüüülalaaaalalüüüülalaaaa)
Was sagst du dazu?
Wie blöd muss man sein.

Bist du noch da?"

"Wie jetzt?
Was?
Du hast dir den Oberschenkel verbrüht??"

"Ja klar!
Ich kam da ja auch nicht weg.
Hatte ja artig die Bremsen am Rollator angezogen...
Den nächsten Kaffee hab ich mir mit der französischen Drückkanne gemacht.
Dass immer erst was passieren muss, bevor man dazulernt..."

"Aaaaber...
Wie jetzt?
Was?
Du hast dir den Oberschenkel verbrüht??"

"Die Krankenpflege war auch noch nicht da.
Hat die nicht gesagt, die kommt um halb neun?"

"Ja, doch...
Aber dein Bein!!!"

"Ich sitze hier und warte auf die... "

klingeling!

"Das wird'se sein!
Bis später mal!"

???
Wie jetzt?
Was?
Die hat sich den Oberschenkel verbrüht??
Ja ist die denn wahnsinnig???"

Erstmal Kaffee.
Aus Padmaschine.
Feigling, ich.

Weiter telefonieren.
Physiophon.
Es geht jemand ran!
"Hab letzte Woche schon... Hausbesuch blabla"
"Ah ja. Ich sehe hier die Notiz.
Die Kollegin konnte das letzte woche nicht mehr bearbeiten,
morgen ist sie aber wieder da und meldet sich."
Hm.

Telefon bimmelt,
Mom ruft zurück.
Am Apparat ist aber nicht sie selbst,
sondern die Krankenpflege.

"Hallöööchen!
Hat ihre Mutter ihnen schon erzählt,
was sie für 'nen Mist veranstaltet hat?" (Mom lacht laut im Hintergrund)

Ich jammer.
"Jaaaaa.
Wie sieht das aus?
Ist das groß?"

"Naja, so doppelte Handfläche,
würd' ich sagen.
Wirft auch schon Blasen...
Ich hab das versorgt und verbunden,
ihre Mutter braucht aber neue Brandsalbe..."

"Wuuuähhhh... Und jetzt?
Wie geht's weiter???"

"Och wissen'se...
Das bleibt jetzt erstmal so.
Ihre Mutter hat so geniales Heilfleisch...
Und wegen der Wunde an der Ferse:
Ich würde den Termin im Wundzentrum erstmal wieder absagen.
Das sieht so toll aus, heute...
Ich komm dann - wie vorher geplant - Mittwoch zum Verbinden wieder
und behalte auch den Oberschenkel im Auge.
Der Hausarzt will ja im Laufe der Woche auch vorbeikommen.
Sobald sich irgendwas wieder verschlimmert, ...
sie hat ja die Überweisung und die Termine gibt's ja recht schnell..."

"Echt?
Ich muss sie nicht da hinbugsieren?"

"Nöööö. Würd' ich nicht machen...
und ich ziehe das Wundzentrum gern zu Rate...
und ich bin auch regelmäßig mit Patienten dort,...
aber so, wie die Ferse heute aussieht,
brauchen sie sich und ihrer Mutter den Stress nicht anzutun."
("Na, Gott sei Dank!", klingt's aus dem Off.)

 Na, Gott sei Dank.
Die haben für morgen Schneeschauer angesagt.
Und Mom in ihren Gesundheitsschläppchen...
Mir fällt der Brocken vom Herzen
und ich sage den Termin im Wundzentrum ab.
Das klappt erstaunlich schnell.
Gute Leute.

Ich kann nicht anders,
ich rufe mein Cousinchen an,
missbrauche sie als seelischen Blitzableiter.
Ich schnattere und flattere aufgeregt mit den Flügeln,
sie hört sich alles an und
streichelt mir beruhigend das Köpfchen...
Alles wird gut.

Telefon schellt.
Mom.

"Ich wollte dir nur sagen:
die Psychiotante hat angerufen.
Die können keine Hausbesuche mehr annehmen."

Ich kann mich gar nicht richtig darüber beömmeln,
dass meine Mom das Wort "Physio" einfach nicht über die Lippen bringt.
Ich bin beleidigt.

Also muss eine andere Praxis ran.
Es geht schon schwer auf die Mittagszeit zu.

Neben dem schon bekannten:
"Ich bin nur der AB und außer mir ist hier jetzt gerade keiner.",
und:
"Hausbesuche? Theoretisch: ja, aber wir sind hoffnungslos überlastet, deshalb praktisch: nein."
 bekomme ich richtig hilfreiche Tipps, wie:

"Versuchen sie es doch mal in den großen Therapiezentren..."
"Welche Therapiezentren???"
"Hier in Duisburg?"
"Äh... Ja klar!"
"Ja da weiß ich jetzt auch nicht..."

Oder

"Gucken sie doch einfach mal im Internet."

Oder

"Nee, bis in den Nachbarstadtteil fahren wir nicht..."

Oder

"Ich würd' da einfach mal anrufen..."

Danke an Alle.
Das versuchen wir also heute nochmal.

Ich bin genervt.
Das Kind ist mittlerweile Zuhause.
Mittagessen.

Wir sichten gemeinsam die Hausaufgaben.
Die Englischlehrerin hat wohl eine falsche Aufgabennummer diktiert,
die passt nicht zu dem, was sie machen sollen.
Fehler passieren.
Kind findet die richtige Aufgabe,
fängt aber mit Musikhausaufgaben an.
Die sind liegengeblieben.
Er hat sich nämlich am Wochenende für Bio
mit seinem ersten Säulendiagramm herumgeschlagen.
Das war nicht leicht, kann ich Euch sagen,
denn das Kind hat einen Fluchtreflex vor großen Zahlen.
Die vorgegebene Einheit: 1mm für 5000 Tierarten
jagte ihm eine Heidenangst ein.
Da muss man ihn wie ein scheues Fohlen heranführen...
Gestern also nur Musik und Englisch.
Kind meint, das ginge alles schnell.
Telefon.
Grundschulkumpel weiß nicht,
was es mit Englischaufgabe auf sich hat.
Kind: Laberlaberlaber.
Nächster Anlauf: Musikhausaufgaben.
Telefon.
Grundschulkumpel weiß nicht,
wie die Aufgabe gemeint ist.
Sollen sie sich jetzt in Echt über AGs an der Schule informieren
und darüber schreiben
oder sich was ausdenken?
Kind: Laberlaberlaber Internetseite der Schule Laberlaberlaber
Musikhausaufgaben...
Telefon.
Grundschulkumpel weiß nicht,
wie die Internetseite der Schule heißt.
Mit Punkt, Minus oder was?
Kind: Laberlaberlaber legt auf.

Mari: "Der tut ja so, als hätte der noch nie 'nen Computer gesehen..."
Kind: "Boah manchmal hasse ich den!
Der sagt, ich soll rausfinden,
wie die Internetseite richtig heisst und ihn dann anrufen.
Er muss nämlich noch Musik machen!"

"Hat der 'se noch alle??? Ich glaub' mein Schwein pfeift! Der soll..."

Mein Handy brummselt.
Die Mutter einer seiner Klassenkameradinnen schreibt mir über ein "soziales" Netzwerk.
Viele lustige Emojis,
eine ganze Reihe Lachgesichter sind dabei.
Hallihallohallöööööchen...
Wie habt "ihr" denn Bio gemacht???
Dieses Diagramm???
Schickst Du "mir" ein Foto davon???

Ich glaub, es hackt.
Ich schnaube.
Ich schimpfe.
Kind schnaubt.
Kind schimpft.
"Ja, sind denn alle bekloppt geworden?"
"Boah Mama! Soll ich den jetzt anrufen, oder nicht?"
"Sag mal... fühlt es sich bei dir auch so an,
als hätten WIR beide jetzt Zoff?"
"Ja."
Schluss.
Feierabend.
"Mach deine Aufgaben,
ich mach den Rest."

Ich rufe den Kumpel an.
Der ist 'ne Weile allein Zuhause,
deshalb triggert der so.
Ich mache ihm 'ne klare Ansage und gut.

Dann belüge ich eiskalt die Diagramm-Mutter.
"Tut mir leid,
Bio ist noch nicht fertig,
Hausaufgaben muss das Kind später machen,
sind noch unterwegs."
Ganz viele traurige, bedauernde Gesichter.

Mobile Daten: aus.

Kind macht Hausaufgaben.

Ich setze Brotteig an.

Kind packt die Tonne.

Ich mache noch schnell ein Foto von der Biohausaufgabe.

Der Hefeduft besänftigt.
 
Zum Abendessen gibt es frisches Weißbrot,
dazu für jeden einen Teller mit Paprikastreifen und Tzatziki zum stippen.

Gegen 19:30 Uhr schalte ich das Handy kurz wieder ein
und versende das Foto.

Antwort sofort.
Offenbar wurde weiter herumgefragt und man stellte zufrieden fest,
dass die Aufgabe offenbar auch anderen Müttern "zu hoch" war.
Die Kinder haben also schöne, bunte Diagramme gemalt.
Mal sehen, welche Prioritäten die Lehrerin setzt,
ausmalen findet das Kind nämlich zum Kotzen.

Gefühltes Fazit des gestrigen Tages:
So viel heiße Luft wie heißes Wasser.

Schöne Zeit!

;O)

Mari

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Dieses Blog ist mit Blogspot erstellt und wird von Google gehostet.
Wenn Du einen Kommentar hinterlassen möchtest, werden außer Deinem Text auch der Zeitpunkt und Dein Nutzername gespeichert und veröffentlicht.
Wählst Du die Funktion „Anonym“, bleibt Dein Nutzerrname unsichtbar.
Ferner wird Deine IP-Adresse von Google aus Sicherheitsgründen mitprotokolliert.
Du kannst hier auch nachfolgende Kommentare abonnieren. Wenn Du diese Funktion durch das Setzen des entsprechenden Häkchens auswählst, erhältst Du eine automatische Bestätigungsmail an Deine angegebene E-Mail-Adresse (Double-Opt-In-Verfahren).
Das Abonnement kannst Du jederzeit beenden.
Mehr Informationen über meinen und Googles Umgang mit Deinen Daten, findest Du über diesem Post in:
MEINE DATENSCHUTZERKLÄRUNG und
WAS GOOGLE ÜBER SICH SAGT.
Wenn Du Hilfe benötigst, stehe ich Dir gerne zur Verfügung.
Schreibe mir einfach eine Mail an: marioenkes.chroniken(at)gmail.com
Solltest Du mit all dem einverstanden sein,
dann hau‘ in die Tasten!
Ich freue mich über Deinen Kommentar!
Schöne Zeit!
;O)
Mari